Es begann im Altersheim
Vor einigen Jahren begann es, in einem
Altersheim in Norwegen.
Dort geschah etwas für dieses Heim
völlig Ungewöhnliches:
eine der alten Damen lächelte beim
Mittagessen ihrer Nachbarin zu und die lächelte freundlich zurück.
Augenblicklich geschah eine auffällige
Veränderung an beiden Frauen. Sie waren plötzlich von einer bis
dahin unbekannten Freundlichkeit, sie lächelten jedem Menschen zu,
und vor allem waren beide von einem sonderbaren Glanz umgeben, der
ihnen fast etwas Übernatürliches gab.
In der gleichen Woche lächelten zwei
weitere Bewohner des Altenheims und tatsächlich auch eine Betreuerin
zurück und schon wirkten auch diese ganz verändert, von dem
gleichen Glanz umgeben.
Mehrere andere Bewohner des Heims
erwiderten in den nächsten Wochen fast zaghaft das Lächeln und
spürten sofort eine umwälzende Veränderung in sich. Und vor allem:
diese Veränderung geschah in alle Fällen von Dauer.
Nach gut einem Monat drang das Lächeln
zum ersten Mal aus dem Heim hinaus. Das geschah durch einen Besucher,
der schon in der Eingangshalle auf das Lächeln mehrerer Damen und
Herren freundlich zurück lächelte.
Als er dann am nächsten Tag mit dem
Zug nach Trondheim fuhr, tauchte das Lächeln plötzlich in fast
allen Zugabteilen auf, verbreitete sich wie ein Feuer und schaffte
eine Atmosphäre, die es dort unter lauter fremden Menschen noch nie
gegeben hatte.
Schon wenige Tage später existierte
das Lächeln auch in London und mehreren anderen Gebieten Englands.
Es tauchte in den Niederlanden auf und
in einigen spanischen Küstengebieten.
Zaghaft stellte es sich in
Nordfrankreich ein, in einigen Teilen Bayerns, im Ruhrgebiet, einige
Fälle wurden sogar in Schleswig Holstein bekannt.
Immer weiter breitete es sich aus, in
einigen Gegenden langsam, in anderen explosionsartig.
Selbst im Ostblock war das Lächeln
bald hier, bald dort zu finden, wenn es auch offiziell totgeschwiegen
wurde.
Aber der Fall eines ungarischen
Zöllners, der wegen seines freundlichen Lächelns und des fast
überirdischen Glanzes, der ihn umgab sofort vom Dienst suspendiert
wurde, provozierte manche westeuropäische Zeitung zu einem bissigen
Kommentar.
In den Gebieten Afrikas und Amerikas
prägte das Lächeln bald das öffentliche Bild auf Marktplätzen, in
Betrieben und Behörden. In Europa wurde das Phänomen nur in einigen
Gegenden von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen.
In Deutschland wurde es längere Zeit
von den Massenmedien ignoriert oder als Gefühlsduselei lächerlich
gemacht. Erst als es doch weitere Kreise erreichte, wurde es von
politischen Parteien, Gewerkschaften und Kirchen wenigstens insoweit
ernst genommen, als eindringlich davor gewarnt wurde.
Die Forderung, sofort weg zu blicken,
wenn jemand lächelte, fand jedoch keinen Niederschlag in
irgendwelchen offiziellen Gesetzen. Es blieb bei verschiedenen
Warnungen, Hinweisen und Informationsbroschüren, die die Gefahren
des neuen Lächelns aufzeigten.
Aufzuhalten war dieses Phänomen
dadurch jedoch nicht.
Auffallend in diesem Zusammenhang war
die folgende Tatsache: wo immer zwei Menschen zusammentrafen, die
beide schon die Erfahrung dieses Lächelns gemacht hatten, erkannten
sie sich sofort- als hätten sie eine Antenne füreinander.
So kam es, dass sich überall in der
Welt fremde Leute in die Arme fielen. Es geschah, dass
Leute in den Bussen oder Straßenbahnen
plötzlich aufeinander zugingen, dass die Verkäuferin im Warenhaus
eine Kundin wie eine Freundin begrüßte oder dass ein
Verkehrspolizist auf einen startenden Wagen zulief und dem Fahrer
herzlich die Hand schüttelte. Es geschah in Schulen, Finanzämtern
und Einkaufsstraßen, dass sich plötzlich ganze Gruppen von Menschen
zusammenfanden, sich einhakten, anfingen zu singen oder sich irgendwo
zusammensetzten. Es kam vor, dass zwei oder drei solcher Gruppen
zusammentrafen und auf der Straße zu tanzen begannen. Es wurden
Einladungen an solche fremden Menschen ausgesprochen, und immer
häufiger traf man sich- irgendwo zu Hause, im Schrebergarten, im
Büro, in der Küche, am Kamin, im Klassenzimmer.
Dabei muss diese Gastfreundschaft und
Herzlichkeit eine andere Qualität besessen haben als
Zusammengehörigkeitsgefühl oder Sympathie. Wie sonst wären sonst
die Fälle zu erklären, die so ganz jeder Vorstellungsmöglichkeit
widersprachen: Da tanzten im Hauptbahnhof Karlsruhe mehrere alte
Damen mit einigen spanischen Gastarbeitern den Bahnsteig entlang, da
wurden Schweizer Touristen bei einer Fotosafari in Ostafrika von drei
schwarzen Wildhütern umarmt und in ihre Hütte geladen, da liefen
bei einer politischen Demonstration plötzlich mehrere Demonstranten
freudestrahlend auf einen der Polizisten zu.
Wo diese Menschen anzutreffen sind? Man
kann sie inzwischen überall auf der Welt finden. In fast jeder Stadt
gibt es welche von ihnen. Wer dazugehören möchte, der sollte
zurücklächeln, wenn ihm jemand ein Lächeln schenkt. Allerdings
gehört Geduld dazu, denn es kann ja auch den „Falschen“ treffen.
Aber das macht nichts. Irgendwann stößt jeder mal auf einen von
„ihnen“. Wenn er dann zurücklächelt, spürt er innerlich, wie
er mit einem Mal ein neuer Mensch wird, einer von „ihnen“.
Und wer ganz sicher gehen will, diesen
Fall ja nicht zu verpassen, der sollte zu einem ganz drastischen
Mittel greifen: einfach zuerst lächeln, dann klappt es bestimmt –
irgendwann!