Natur!
Wir sind von ihr umgeben und
umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer
in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den
Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet
sind und ihrem Arme entfallen.
Sie schafft ewig neue Gestalten; was da
ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder – alles ist neu und doch
immer das alte.
Wir leben mitten in ihr und sind ihr
fremd. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis
nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.
Sie scheint alles auf Individualität
angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer
und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich.
Sie lebt in lauter Kindern; und die
Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige Künstlerin: Aus dem simpelsten
Stoff zu den größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der
größten Vollendung – zur genausten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem
überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer
Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus.
Sie spielt ein Schauspiel; ob sie es
selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie’s für uns, die wir in
der Ecke stehen.
Es ist ein ewiges Leben, Werden und
Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig,
und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen
Begriff, und ihrem Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest.
Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.
Gedacht hat sie und sinnt beständig;
aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen
allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.
Die Menschen sind all in ihr und sie in
allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr
man ihr abgewinnt. Sie treibt’s mit vielen so im Verborgenen, dass sie’s
zu Ende spielt, ehe sie’s merken.
Auch das Unnatürlichste ist die Natur.
Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.
Sie liebt sich selber und haftet ewig
mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie hat sich
auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer lässt sie neue
Genießer erwachsen, unersättlich, sich mitzuteilen.
Sie freut sich an der Illusion. Wer
diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste
Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.
Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist
sie überall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und
denen sie viel aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft.
Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem
Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen.
Sie sollen nur laufen. Die Bahn kennt sie.
Sie hat wenige Triebfedern, aber nie
abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.
Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie
immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der
Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.
Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein
und spornt ihn ewig zum Licht. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und
schwer und schüttelt ihn immer wieder auf.
Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung
liebt. Wunder, dass sie alle diese Bewegung mit so Wenigem erreicht. Jedes
Bedürfnis ist Wohltat. Schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt
sie eins mehr, so ist’s ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins
Gleichgewicht.
Sie setzt alle Augenblicke zum längsten
Lauf an und ist alle Augenblicke am Ziele.
Sie ist die Eitelkeit selbst; aber
nicht für uns, denen sie sich zur größten Wichtigkeit gemacht hat.
Sie lässt jedes Kind an sich künsteln,
jeden Toren über sich richten, tausend stumpf über sich hingehen und
nichts sehen und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre
Rechnung.
Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn
man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken
will.
Sie macht alles, was sie gibt, zur
Wohltat; denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumt, dass man sie
verlange; sie eilt, dass man sie nicht satt werde.
Sie hat keine Sprache noch Rede; aber
sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht.
Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie
kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will
sich verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammen zu ziehen.
Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll
Mühe schadlos.
Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst
und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rau und
gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist
immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist
ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie
ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr
kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu
gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken.
Sie ist ganz, und doch immer
unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie’s immer treiben.
Jedem erscheint sie in einer eigenen
Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen und ist immer
dieselbe.
Sie hat mich hereingestellt, sie wird
mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten.
Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr
ist, und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld,
alles ist ihr Verdienst.